Wer hat gesagt, dass Mode bequem sein muss?

Wer hat gesagt, dass Mode bequem sein muss? Wahrscheinlich jemand in Crocs.

Wir leben in einer Zeit, in der Komfort das höchste Ideal zu sein scheint. Kleidung soll „praktisch“ sein, „nicht zwicken“, „für den Alltag geeignet“. Ein modischer Fehlschluss, der sich in winddichten Jacken, Stretch-Jeans und elastischen BHs manifestiert – alles mit dem Anspruch, niemandem mehr zu viel zuzumuten. Am allerwenigsten sich selbst.

Kleidung ist heute nicht mehr Ausdruck, sondern Ausrede. Man trägt, was halt „funktioniert“. Was man schnell überwerfen kann, ohne sich zu reflektieren. Was man zur Arbeit, zum Hundespaziergang und – mit einem Schal – sogar zur Taufe tragen kann. Weil: „Bequem ist doch auch schön, oder?“

Nein. Ist es nicht.

Bequemlichkeit ist nicht Stil. Es ist Kapitulation

Wer sagt, dass Mode bequem sein muss, meint in Wahrheit:  
Ich will mich nicht anstrengen.  
Ich will mich nicht hinterfragen.  
Ich will nicht auffallen.  
Und vor allem will ich bitte, bitte nie, nie bewertet werden.

Und ja – das ist verständlich. In einer Welt, die ständig nach Meinung fragt und alle Antworten sowieso falsch findet, ist die Flucht in graue Funktionsjacken ein Schutzmechanismus. Aber eben auch ein modischer Offenbarungseid.

Denn Mode war nie dafür da, dich in Watte zu packen. Mode war dafür da, dich zu zeigen. Dich auszudrücken. Und ja: dich ein kleines bisschen zu erhöhen. Wer Mode nur unter dem Gesichtspunkt der Bequemlichkeit betrachtet, hat ihre eigentliche Kraft nie verstanden.

„Aber ich fühl mich wohl darin!“

Natürlich. Du fühlst dich auch in deiner Couch wohl. Und trotzdem gehst du nicht in Hausschuhen zur Hochzeit deiner Schwester – oder doch?

Wohlfühlen ist kein Argument, wenn es auf Kosten der Ästhetik geht. Ich fühle mich auch wohl in Pyjamas, aber ich ziehe sie nicht an, wenn ich ernst genommen werden will. Die große Lüge unserer Zeit ist, dass Bequemlichkeit gleich Selbstliebe sei. Nein. Bequemlichkeit ist häufig Selbstvermeidung.

Mode darf unbequem sein. Sie darf zwicken. Drücken. Und fordern.

Sie darf Haltung verlangen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.
Wer hohe Schuhe trägt, geht anders.  
Wer ein Statement-Kleid trägt, steht anders im Raum.  
Wer sich bewusst für ein Outfit entscheidet, entscheidet sich auch dafür, gesehen zu werden.

Und das? Macht vielen Angst.

Denn Bequemlichkeit ist nicht nur ein Kleidungsstil. Es ist ein Lebensstil. Und dieser Lebensstil sagt: Ich will niemandem wehtun – am allerwenigsten mir selbst. Ich will keinen Widerstand. Keine Reibung. Keine Konfrontation mit meiner Silhouette, meinem Stil, meinem Geschmack.

Willkommen in der Ära der Anti-Mode

In dieser Ära ist jeder Jogger plötzlich „ein cooler Look“, jedes übergroße Shirt „so effortless“, und jeder Alltagsfummel wird auf Social Media mit „Iconic!“ bejubelt – obwohl er aussieht wie ein Notfalloutfit nach einem Wasserschaden. Es wird gefeiert, was nicht mehr fordert. Und vergessen, was einst faszinierte.

Stil hat mit Mühe zu tun. Mit Auswahl. Mit Bewusstsein. Mit der Entscheidung, nicht den einfachsten Weg zu gehen. Mode darf unbequem sein, weil sie etwas mit dir macht. Weil sie dich verändert. Weil sie sagt: Ich habe mich entschieden, heute nicht nur funktional zu sein.

Es geht nicht darum, sich zu quälen. Es geht darum, Haltung zu zeigen

Und wer jetzt denkt, ich rede hier von zu engen Korsetts oder Fußverformung durch Heels – nein. Ich rede von Stil als bewusster Entscheidung gegen Gleichgültigkeit. Ich rede von Kleidung, die dich ernst nimmt. Kleidung, die etwas von dir will – und dir gleichzeitig etwas gibt: Ausstrahlung. Präsenz. Wirkung.

Die Wahrheit ist: Viele haben einfach verlernt, sich schön zu machen. Nicht, weil sie es nicht wollen. Sondern weil sie denken, sie dürfen nicht mehr. Weil wir uns eingeredet haben, dass Eitelkeit etwas Schlechtes sei. Dass Mühe etwas Peinliches sei. Dass Aufwand gleich Unsicherheit sei.

Und deshalb tragen so viele Menschen heute Kleidung wie ein Tarnnetz.

Bloß nicht zu viel. Bloß nicht zu bunt. Bloß nicht zu laut.

Aber wozu, bitte, leben wir, wenn wir nicht mal für uns selbst die beste Version zeigen dürfen?

„Aber Mode muss doch auch praktisch sein!“

Muss sie? Warum? Ist Schönheit nur dann erlaubt, wenn sie sich leicht in die Spülmaschine stellen lässt? Muss jedes Kleid Taschen haben, nur weil du sonst nicht weißt, wohin mit deinem Handy?

Vielleicht ist genau das das Problem: Dass wir gelernt haben, alles und jeden ständig „praktisch“ zu machen. Und dass wir uns selbst dabei verloren haben.

Praktisch ist das Gegenteil von poetisch. Und Mode ist nichts anderes als Poesie aus Stoff.

Deshalb, liebe Schwestern: Hört auf, euch unter dem Deckmantel der Bequemlichkeit klein zu machen.

Tragt Absatz, wenn ihr wollt. Tragt Farbe, wenn ihr könnt. Tragt Haltung, auch wenn sie zwickt.

Mode darf unbequem sein. Sie darf sichtbar machen, dass ihr da seid. Und sie darf zeigen, dass ihr nicht gekommen seid, um euch anzupassen – sondern um euch zu entfalten.

Denn die bequemste Kleidung ist oft die, in der du dich am meisten versteckst.

Und die unbequemste? Manchmal genau die, in der du endlich anfängst zu leuchten.

Hochachtungsvoll,

Marlis für Karins Schwester

 


Hinterlassen Sie einen Kommentar

Bitte beachten Sie, dass Kommentare vor der Veröffentlichung freigegeben werden müssen

Diese Website ist durch hCaptcha geschützt und es gelten die allgemeinen Geschäftsbedingungen und Datenschutzbestimmungen von hCaptcha.