Verantwortung? Fehlanzeige. Eine Gesellschaft im Rückwärtsgang

Es gibt Tage, an denen ich mich ernsthaft frage, was mit dieser Gesellschaft passiert ist. Wann haben wir verlernt, Verantwortung zu übernehmen – für unser Handeln, für unser Verhalten, für das, was wir tun, sagen oder einfach geschehen lassen? Früher – und das klingt jetzt wie ein Satz aus einem alten Wertekanon – früher sagten Menschen „Oh Gott, tut mir leid“, wenn ihnen etwas runterfiel. Heute? Heute sagen sie: „Ich hab kein Geld dabei“ oder „Ich zahl’ das aber nicht ganz“. Ohne mit der Wimper zu zucken. Kein Anstand, kein Bedauern, kein Funken von Selbstreflexion.

Und da stehe ich dann. In meinem Laden. Sehe, wie eine Tasse fällt, wie ein Ornament zerbricht oder ein Tablett mit einem lauten Knall auf dem Boden zerschellt. Ich sehe die Gesichter, die so tun, als wäre nichts passiert. Ich höre den Satz „Na, das war jetzt aber nicht meine Schuld, oder?“ – und in mir wird es still. Weil ich weiß: Diese Szene ist ein Spiegel unserer Zeit.

Verantwortung ist out. Schuldgefühl ist oldschool. Und Selbstkritik ist etwas für Menschen mit Rückgrat – also für eine aussterbende Spezies.

Man möchte fast lachen, wenn es nicht so traurig wäre.

Denn während ich noch die Scherben aufhebe, betreten die Nächsten schon den Laden. Und kaum sind sie drin, geht es los. „Oh Gott, ist das bunt!“ – „Das ist mir ja viel zu grell.“ – „Ui, das ist aber… pink.“ Dazu dieses typische durch-die-Backen-Pusten, das Augenrollen, die Körperhaltung zwischen Schockstarre und Überforderung. Es ist fast schon choreografiert, wie perfekt das sitzt.

Diese Menschen kommen nicht, um einzukaufen. Sie kommen, um zu kommentieren. Um ihre Meinung abzugeben, als wäre sie eine Währung.

Doch hier ist die Wahrheit:

Ihre Meinung interessiert uns nicht.

Nicht im Geringsten.

Wir betreiben keinen Mitmach-Laden. Es ist kein Bürgerforum, kein öffentlicher Debattentisch für kleingeistige Geschmacksfragen. Wenn jemand „zu pink“ ruft, dann verrät er nur, dass er noch nie in einem internationalen Concept Store stand. Wenn jemand sagt „das ist ja verrückt hier“, dann zeigt er, dass er nie in Mailand, Paris oder London eine Boutique betreten hat.

Wir leben an einem Ort, an dem das Außergewöhnliche misstrauisch beäugt wird. An dem Kreativität als Provokation gilt. An dem man lieber beige bleibt, als ein Risiko einzugehen.

Und jetzt – als Krönung – kommt auch noch der fragwürdige, sehr einfache Billig-Tourismus dazu. Menschen, die für 9,90 € in die Alpen chauffiert werden, um im Bus ihr belegtes Brötchen vom Frühstücksbuffet zu essen und in Läden zu gehen, die sie geistig überfordern. Am Königssee ein paar Fotos, raus aus dem Bus, rein in den Bus, weiter. Kein Anstand, kein Werteempfinden, kein Gefühl für unsere Heimat. Für ein paar Euro viel Erleben und nichts hinterlassen. Gatzen wie Hühner im Laden weil sie sich nicht wohlfühlen aber dennoch zum Ausdruck bringen wollen, wie sie es finden. 

Sie kennen keine Theaterabende, keine Vernissagen, keine zeitgenössischen Ausstellungen. Sie waren noch nie in einem Ort, an dem man flüstert, weil man Achtung empfindet. Stattdessen trampeln sie durch eine Welt, die sie nicht verstehen, und kommentieren sie mit der Eloquenz eines Pausenhofs. Für den schnellen Euro im Sommer nehmen das viele in Kauf. Wir nicht.

Und ja – ich schreibe das als jemand, der mitten in dieser Gesellschaft lebt, sie aber längst nicht mehr versteht.

Ich sehe eine Zunahme an Anspruch, aber einen Rückgang an Haltung. Ich sehe Konsum ohne Bewusstsein, Meinung ohne Wissen, Verhalten ohne Konsequenz. Die Menschen nehmen, ohne zu geben. Und sie erwarten, dass man lächelt, während sie das tun.

Der Respekt vor Eigentum ist verschwunden. Der Respekt vor Arbeit, Kreativität, Individualität – verflogen. Alles wird bewertet, alles kommentiert. Und natürlich immer laut, ungefragt und mit einer Haltung, als würde die Welt darauf warten, was sie zu sagen haben.

Dabei ist es so einfach: Wenn du einen Raum betrittst, den du nicht verstehst - sei still. Beobachte. Lerne.

Aber das ist zu viel verlangt für eine Gesellschaft, die „ich hab kein Geld dabei“ als Lebensmotto trägt.

Ich frage mich: Wann wurde Ignoranz salonfähig? Wann wurde es normal, nichts zu wissen und trotzdem alles zu kommentieren? Wann wurde der Satz „Ich finde das aber nicht schön“ zu einem gesellschaftlich akzeptierten Ersatz für Bildung?

Die Wahrheit ist: Wir sind umgeben von Menschen, die nicht mehr wissen, wie man sich verhält. Nicht, weil sie es nie gelernt hätten – sondern weil sie glauben, es nicht mehr zu müssen.

Es ist die Erosion des Benehmens, der schleichende Tod der Kultur. Und ja, das klingt elitär. Soll es auch.

Denn wer nie gelernt hat, den Unterschied zwischen billig und preiswert, zwischen laut und auffällig, zwischen Stil und Ausdruck zu verstehen, wird nie begreifen, dass Pink mehr Mut erfordert als Grau.

Wir, die anders denken, anders gestalten, anders auftreten, sind kein Teil dieses Niedergangs.

Wir sind die Gegenbewegung.

Die, die Haltung leben, ohne sie auszurufen.

Die, die Qualität nicht erklären müssen.

Die, die Kreativität nicht entschuldigen.

Wenn jemand also in meinen Laden kommt, alles kommentiert, nichts versteht und dann – im besten Fall – noch etwas fallen lässt, ohne dafür geradezustehen, dann ist das kein Einzelfall. Es ist ein gesellschaftliches Symptom.

Ein Symptom dafür, dass Menschen glauben, alles wäre ersetzbar – Dinge, Menschen, Werte.

Aber was sie nicht verstehen: Nicht alles ist für sie gemacht. Nicht alles ist für alle da. Und das ist gut so.

Ich habe keine Lust mehr, mich ständig an das kleinste Niveau anzupassen, nur weil man es nicht besser kennt. Ich habe keine Geduld mehr für Ausreden, keine Toleranz mehr für Dummheit, keine Energie mehr für Kleingeist.

Ich stelle diese Gesellschaft in Frage, weil sie sich selbst längst aufgegeben hat.

Und wenn das arrogant klingt – perfekt. Dann habe ich es richtig getroffen. Denn Arroganz ist oft nur die Reaktion auf Ignoranz.

Wir leben, gestalten, denken und handeln anders.

Und ja – wir sind etwas Besseres.

Nicht, weil wir mehr besitzen, sondern weil wir mehr begreifen.

Nicht, weil wir lauter sind, sondern weil wir still bleiben können, wenn es angebracht ist.

Nicht, weil wir fehlerlos sind, sondern weil wir Verantwortung übernehmen, wenn uns ein Fehler passiert.

Ein kaputter Teller ist nur Porzellan.

Aber ein fehlender Anstand – das ist echter Bruch.

Und davon liegen in unserer Gesellschaft mittlerweile mehr Scherben auf dem Boden, als man aufkehren kann.

Es grüßt mit Anstand,

Marlis für Karins Schwester 


3 Kommentare


  • Mimi

    Liebe Marlies, du bringst es auf den Punkt, absolut. Das sind, unter anderem, die Gründe, weshalb ich nach ewiger Zeit im Einzelhandel alles hingeschmissen habe. 10 Jahre vor der eigentlichen Rente.
    Wir haben es noch gelernt, den Respekt, die Verantwortung und ein Benehmen an den Tag zu legen.
    Es ist wirklich traurig, wie sich vieles negativ verändert hat und es wahrscheinlich auch noch schlimmer wird

    Herzliche Grüße,
    Mimi


  • Anja

    Liebe Marlis, Sie sprechen mir aus dem Herzen und ich danke Ihnen für die fein- und scharfsinnigen Worte. Danke für den Mut, die traurige Entwicklung anzusprechen, ohne zu verletzen 💝. Lassen Sie sich nicht „unterkriegen“.
    Herzliche, und gerne auch pinke Grüße, Anja


  • Birgit

    Liebe Marlins,

    Chapeau für deine auf den Punkt gebrachte Sicht auf unsere Gesellschaft.

    Ich denke und empfinde genau wie du. Es ist die Sattheit, die uns zu dem hat werden lassen. Und wir täten gut daran, daß Kleine, das Geringe wieder mehr zu schätzen.

    Der Tag wird kommen… ich weiß, es dauert noch eine Weile. Und es wird weh tun (müssen).

    Ich bleibe da ganz entspannt. Denn ich lebe bereits heute schon mit dieser Haltung.

    In Verbundenheit
    Birgit 💚


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