Früher war mehr Zukunft. Ein Abgesang auf die 90er und ein Mittelfinger an die Jetztzeit
Ich bin 1979 geboren.
Das bedeutet: Meine Kindheit war analog, meine Jugend war rebellisch, und mein Erwachsenwerden - tja, das passiert irgendwie gerade. Und es fühlt sich seltsamer an denn je.
Damals, in den 90ern, war die Welt ein Versprechen. Ein schräges, buntes, leicht überdrehtes Versprechen mit Diddl-Maus, Neon-Haarreifen und Tamagotchis - aber ein Versprechen nonetheless.
Wir hatten keine Angst. Nicht vor Terroranschlägen, nicht vor Meinungsäußerung, nicht vor der Zukunft.
Wir hatten Freiheit.
Und zwar nicht diese mit Gendersternchen weichgespülte Instagram-Freiheit, sondern echte: mit dem Fahrrad bis nach Italien (naja, fast), mit 20 Mark in der Tasche und null Angst im Herzen.
Wir haben geraucht, obwohl es nicht cool war.
Wir haben uns geprügelt, obwohl man sich nicht prügeln sollte.
Wir haben uns ausprobiert. Laut, schräg, unperfekt. Und ja - oft auch bescheuert.
Aber es war ECHT.
Loveparade.
Nicht das, was heute unter dem traurigen Label "Rave the Planet" durch Berlin taumelt, sondern DAS Original: Millionen Menschen, halb nackt, halb high, aber voll im Jetzt.
Kein Shaming, kein Genderdebatten-Labyrinth, kein "Darf ich das überhaupt sagen?"
Nur Bass.
Und Freiheit.
Wir waren draußen.
Ohne GPS, ohne "Teile deinen Standort", ohne Bildschirm zwischen uns und dem Moment.
Unsere Eltern wussten nicht, wo wir waren.
Und genau das war das Beste daran.
Die größten Probleme hießen "Meine Mutter hat meine Bravo weggeworfen" oder "Ich hab zu viel Haarspray benutzt und jetzt klebt alles".
Wir lebten zwischen Eurotrash und Indie, zwischen Oasis und Westbam, zwischen Gameboy und Walkman, äääh Discman.
Und wir glaubten an das Leben.
Nicht an diese kafkaeske Dauerkrisenwelt, in der heute alle nur noch funktionieren, anpassen, kontrollieren.
Heute?
Heute musst du erst mal fünf Triggerwarnungen schreiben, bevor du "Guten Morgen" sagen darfst.
Heute stehen auf Festivals keine Menschen mehr - sondern Zielgruppen.
Heute darfst du auf gar keinen Fall eine andere Meinung haben, ohne dass sofort jemand hyperventiliert und dich bei Instagram blockiert.
Heute gehen Kinder in Therapie, weil jemand gesagt hat, ihr Bild sei "ganz süß, aber verwackelt".
Was ist los mit uns?
Früher warst du jemand, weil du etwas konntest.
Heute bist du jemand, wenn du viele Likes bekommst.
Egal, ob du dafür ein Hula-Hoop-Reel oder einen Heul-Post brauchst - Hauptsache Aufmerksamkeit.
Wir sind eine Gesellschaft voller digitaler Wichtigtuer, aber ohne echte Haltung.
Früher hattest du Pläne. Große!
Studium in Florenz, Galerie in New York, barfuß durch Goa.
Heute planst du, wie du Heizkosten zahlst, dich nicht mit Impfgegnern streitest und bei Penny nicht aus Versehen falsch genderst.
Früher hattest du Angst vor Mathe.
Heute hast du Angst, etwas Falsches zu sagen. In der Kantine, beim Elternabend, im Internet.
Heute lebst du auf Zehenspitzen - bloß niemanden kränken, bloß nicht anecken.
Der Preis: Authentizität
Wir haben uns selbst abgeschafft.
Wirklich: Wir haben uns weichgespült, durchreguliert.
Wo früher Rebellion war, ist heute Sensibilität auf Rezept.
Wo früher Punk war, ist heute Cancel Culture.
Und wo früher eine Diskussion zwei Meinungen hatte, haben wir heute nur noch einen Shitstorm.
Das Schlimmste? Die Angst.
Nicht vor Bomben, sondern vor Bewertungen.
Die Angst, nicht richtig zu sein. Nicht woke genug. Nicht tolerant genug. Nicht politisch korrekt genug.
Wir beugen uns lieber dem Trend als unserer Überzeugung
Ich vermisse den Mut.
Den Mut, anzuecken.
Den Mut, sich nicht impfen zu lassen oder sich impfen zu lassen - aber es niemandem erklären zu müssen.
Den Mut, keine Meinung zu haben.
Oder eine zu haben, die keiner liked.
Ich vermisse echte Menschen.
Nicht die, die morgens schon Storys posten, wie sie mit Selleriesaft meditieren.
Sondern die, die zu spät kommen, weil sie gelebt haben.
Menschen mit Ecken, Macken, Widersprüchen - nicht mit Feed-Ästhetik.
Ich vermisse eine Zeit, in der nicht jede Entscheidung gleich eine Weltanschauung war.
Wo man noch Jack Wolfskin trug, ohne sich als Naturschützer definieren zu müssen.
Wo man nicht zu allem eine Haltung brauchte - außer zur eigenen Zukunft.
War früher alles besser?
Nein.
Aber es war alles echter.
Wir sind mit Muttermilch und Milchbrötchen aufgewachsen, nicht mit Angst und Selbstoptimierung.
Wir haben überlebt, obwohl wir mit Sonnenöl 8 in der Mittagshitze lagen und Capri-Sonne getrunken haben, als wär's Medizin.
Und das Allerbeste: Wir hatten Hoffnung.
Heute wird Hoffnung durch "Awareness" ersetzt.
Glück durch Achtsamkeit.
Freiheit durch Filter.
Ich will zurück.
Nicht, weil ich alt bin.
Sondern weil ich weiß, wie es sich anfühlt, frei zu sein.
Nicht optimiert.
Nicht einsortiert.
Nicht kontrolliert.
Einfach nur frei.
In diesem Sinne,
Marlis für Karins Schwester
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