Als Musik noch weh tat – eine Liebeserklärung an die 90er
Damals, als Musik noch aus Radios kam, in denen ein Finger auf der Aufnahmetaste lauerte.
Damals, als man eine Kassette zurück spulen musste, um denselben Song noch mal zu hören. Und sich dabei das Band verhedderte, weil der Walkman mal wieder zu enthusiastisch war.
Damals, als Musik keine Hintergrundbeschallung war – sondern ein Lebensgefühl, ein Drama, ein Soundtrack für pubertierende Herzen, die zu viel fühlten und zu wenig verstanden.
Die 90er. Es war das Jahrzehnt der echten Gefühle. Und der schlechten Outfits. Aber niemand hat das gespürt, weil wir alle dachten, Plateauschuhe seien Haute Couture und Tattoo-Choker-Halsbänder ein Ausdruck innerer Reife. Wir waren jung, verwirrt und saßen mit offenem Herzen vor dem Fernseher, als ‚VIVA Neu‘ endlich das neue Video von Boyzone zeigte. Oder von Britney. Oder von No Doubt.
Ich habe als Jugendliche bis ich ungefähr 17 Jahre alt war, in Regensburg gelebt. Man konnte in dieser Studentenstadt mehr als göttlich abends in Bars oder Clubs rausgehen.
Mein Traum war aber damals: einmal auf die Love Parade. Berlin. Weit weg von unserem Dorf Regensburg. Groß. Laut. Frei. Leider blieb mein Wunsch in diesem einen Sommer unerfüllt. Dafür kam ich ins Internat. Nach England. Noch weiter weg von zu Hause und naja, sagen wir eher unfrei ;)
Meine Jugend war toll. So unglaublich unbeschwert. Nur jedes Mal viel Schmerz, weil man fast wöchentlich endlich seine große Liebe kennengelernt hat. Derjenige wusste selten was von seinem Glück. Aber ich habe den Schmerz gefühlt. 17 Jahre alt. Gott waren wir bereit für immer und ewig uns diesem einen Mann zu versprechen.
Heute muss ich schmunzeln. Und mich ein bisschen selbst schämen. Wow. Wir waren wirklich so jung.
Wir haben geweint, wenn ein Song von Roxette lief. Wir haben geliebt, wenn der Bass von Snap durch die Boxen vibrierte. Und wir haben gelebt, wenn uns MTV in eine Welt entführte, in der Menschen in Zeitlupe durch leere Straßen liefen und dabei ins Leere starrten. Musikvideos waren damals keine Accessoires – sie waren Kunst. Und Schmerz. Und großes Kino auf 4:3.
Der erste Kuss? Hatte einen Soundtrack.
Der erste Liebeskummer? Auch. Und während man auf dem Schulweg versuchte, die Tränen hinter getönten Sonnenbrillen zu verstecken, war da Mariah Carey, die jeden Ton traf, den das eigene Herz nicht mehr halten konnte. „Without You“ war keine Ballade. Es war ein Überlebensmittel.
Und dann kam Freestyle. Musik für die, die zu viel fühlten und keine Worte fanden. „When I look into your eyes, I can see forever“ – natürlich konntest du das. Auch wenn du 14 warst und dein „Forever“ der Junge mit den Adidas-Poppern war, der nie mit dir sprach. Die 90er hatten für jedes Gefühl einen Song. Für jedes Drama einen Refrain. Und für jeden Schmerz ein Musikvideo, das dich verstand.
Heute? Heute fragt dich Spotify: „Wie fühlst du dich gerade?“ Und schlägt dir die Playlist „Easy Feeling Vibes“ vor. Früher hätte dich Mariah einfach angeschrien. Oder Celine Dion hätte dich auf einem Eisberg aus Emotionen zurück ins Leben gesungen. Heute bekommst du Lo-Fi-Beats und ein bisschen Synthesizer-Geflüster.
Musik hat ihre Dringlichkeit verloren. Ihre Tiefe. Heute ist sie Dekoration. Sound für Smoothie Bowls und Instagram-Stories. Damals war sie ein innerer Aufschrei. Eine Protestbewegung gegen alles, was man nicht in Worte fassen konnte. Musik war das Tagebuch einer/unserer Generation, die sich noch nicht über Selfies, sondern über Songtexte definierte.
Und dann war da noch Beverly Hills 90210. Die heilige TV-Bibel aller Mädchen mit Kajal. Dylan, Brenda, Kelly – sie hatten mehr Gefühl in einem Blick als ganze Netflix-Serien heute in zehn Staffeln. Jede Folge endete mit einem Song. Und jedes Mal fühlte es sich an, als hätte dir das Universum gerade eine emotionale Klatsche verpasst. Herrlich.
Was ist eigentlich passiert? Wann genau wurde Musik zur Ware, zur Verfügbarkeits-Plastik? Wann haben wir aufgehört, auf Songs zu warten? Und warum ist niemand mehr bereit, für ein Album 36 Mark fünfzig zu bezahlen, wenn man heute alles für 9,99 EUR streamen kann? Die 90er waren nicht nur ein Jahrzehnt – sie waren ein Zustand. Eine Therapie. Eine Religion.
Wir haben mit Walkman oder Discman, Mixtapes und Radiorekordern Gefühle konserviert. Wir haben Songs aufgenommen, weil wir wussten: Wenn ER den hört, wird er wissen, wie es mir geht.
Spoiler: Er hat es nie gehört. Aber das war egal. Denn wir hatten unseren Soundtrack. Unser geheimes Archiv an Emotionen.
Und das war alles.
Aber es war unsere ganze Welt.
In emotionaler Erinnerung und einem jungen Leben mit einem Soundtrack,
Marlis für Karins Schwester
Liebe Marlis, soooo aus dem Herzen ❤️ gesprochen. Ich bin zwar ein Kind der 80er und war in den 90ern schon Twen aber das Feeling war/ist genau das gleiche!!! 🥰 Was haben wir für eine tolle Zeit gehabt, oder?! Wir waren frei – ohne Handy und die ganzen Socialmediaprobleme…. wenn wir Liebeskummer hatten und bei “dem” Lied das genau unsere Stimmung wiedergab das große Heulen bekommen haben wurde das (Gott sei Dank) nicht gleich fotografiert und aus Häme hochgeladen.
Und die Musik überhaupt – es gab so viele Stilrichtungen: Punk, Funk&Soul, New Age, die neue deutsche Welle 🙈 und und und…. war ne echt Geilenkirchen Zeit 👍😎
Wie das gut tut ! Eine Hommage auf unsere Jugend der 90 ziger ! Ich fühle diese Zeit immer noch in mir …. Herrlich wenn die Songs gespielt werden. .Erinnerungen und Emotionen aufleben …. Danke Marlis !
Liebe Marlis,
wie immer auf den Punkt gebracht!
Bei mir waren es zwar schon die Achtziger, aber das Gefühl war genauso.
Noch heute hat man bei bestimmten Liedern genau die Situation vor Augen.
Und nicht von ungefähr hören heute unsere Kinder immer noch beim Feiern unsere „Oldies“, weil die Songs von heute oft zu beliebig sind.
Schreib fleißig weiter, ich freue mich schon auf den nächsten Beitrag.
Herzliche Grüße und hoffentlich auf bald in Berchtesgaden
Ich fühle JEDE Zeile!!!!!!!! Danke für die Reise zurück in meine Jugend :)
PS: Ich habs nach Berlin zur Love Parade geschafft ;)
Liebe Grüße
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