90er Mode – was zur Hölle hatten wir an?!

Ein fashionhistorischer Unfall mit Ansage.

Die 90er waren das Jahrzehnt der Boybands, der Diddl-Mäuse – und des modischen Totalversagens.

Und das sage ich mit Liebe. Mit Herz. Aus voller ehrlicher Überzeugung. Und mit der tiefen Scham, die einen überkommt, wenn man alte Fotos findet, auf denen man aussieht wie eine Mischung aus Kylie Minogue, Techno-Elfe und Plastik-Vampirin aus der H&M-Funktionsabteilung.

Was zur Hölle hatten wir an?!

Buffalos. Diese absatzgewordene Bindegewebszerstörung. 15 Zentimeter hoch. Aus Schaumstoff, Klebstoff und Größenwahn.

Wer nicht mindestens zweimal in der Woche mit ihnen umgeknickt ist, hatte die falschen Buffalos. Es waren keine Schuhe. Keine Sneakers. Es waren Buffalos.

Und wenn du dachtest, das war schlimm – dann erinnerst du dich nicht an die glänzenden Schlaghosen. Die in Bronze, Silber oder diesem einen Blauton kamen, der irgendwo zwischen „Fruchtzwerge“ und „Motoröl“ lag. Material: Stretchfolie. Passform: Haute Couture für Barbie-Beine. Schweißresistenz: minus 47.

Dazu: bauchfrei. Immer. Überall. Egal ob du 13 warst oder 33 – der Bauch war draußen. Am besten mit Tribal-Gürtel. Oder Glitzersteinchen.

Oder einem Choker am Hals, der wie eine abgeschnittene Strumpfhose um den Hals hing. Schwarz. Dehnbar. Und modisch so erotisch wie ein Pixie-Stirnband im Ausverkauf.

Unsere Tops waren klein. Unsere Hosen waren tief. Hüft-Tief. So tief, dass du beim Sitzen quasi direkt die Bauchrille präsentiert hast.

Weshalb Gott uns auch in den 90ern das Bauchnabelpiercing schickte.

Oder besser gesagt: Claire’s. Denn da ließ man sich in der Mittagspause schnell mal ein funkelndes Teil reinballern – mit Glitzer, Herzchen oder Playboy-Bunny. Schamgrenze? Damals ein Gerücht.

Und dann kamen die Tattoos. Oh ja.

Niemand, aber wirklich niemand, der in den 90ern zu viel VIVA geschaut und zu wenig Widerstand hatte, kam ohne Arschgeweih aus.

Einfach mal schön ein Tribal überm Steißbein. Zierlich. Feminin. Und zu 97 % heute weggelasert. Meins ist allerdings noch existent. Größer, mitgewachsen in den Konfektionen, in all den Jahren. Mein Vater stand damals unter Schock, als ich mit dem geschwungenen Tribal Tattoo nach Hause kam und ich mir dachte: Mir gehört die Welt. Das ist cooler denn cool.

Oder die chinesischen Schriftzeichen. Auf der Schulter. Im Nacken. Am Knöchel. Bedeutung? Irgendwas mit „Mut“ oder „Liebe“ oder „Gebratene Ente“. Hauptsache asiatisch und geheimnisvoll. Da konnte ich allerdings persönlich widerstehen. Ich hatte damals zuviel Angst, ob der Tattoo-Laden dann doch nicht das Wort "7 Schätze" oder "gebratenes Rindfleisch mit Zwiebeln" sticht.

Dazu trug man: Leoprint. Oder KUH-PRINT. Ohne Worte. Hosen und bodenlange Röcke in Kuh-Print. Oh ja, dann sah man sich immer bei DJ Westbam auf dem Rave-Truck über die Love-Parade fahren. In Gedanken aber mit sicheren Moves.

In jeder Lebenslage. Rock. Tasche. Bikini. Haarspange. Leopard war kein Muster – Leopard war Religion.

Und wer wirklich Stil hatte, kombinierte ihn mit Zebramuster oder Neon. Colorblocking für Fortgeschrittene. Augenkrebs deluxe.

Und die Frisuren? Ein Kapitel für sich. Stirnfransen mit Gel zu Minihörnern geformt. Haarklammern, die aussahen wie Mini-Krabben.

Oder diese metallenen Zickzack-Haarreifen, die aus jedem Mädchen eine schlecht gelaunte Antenne machten.

Wer ganz modisch war, hatte Strähnchen in Karamell oder Burgunder, farblich abgestimmt auf die silbernen Lippenstifte. Yes, SILBER. Warum? Weil wir es konnten.

Auch sehr beliebt: Frottee. Ja, das Material, aus dem eigentlich Handtücher sind. In Rosa, in Gelb, als Shorts, als Tube-Tops. Am besten kombiniert mit einem Bolerojäckchen und Plateausandalen mit Schmetterlingen drauf.

Und wer modisch komplett durchgespielt hatte, zog sich einen BH mit Schnürung an.

Hinten offen. Vorne gebunden. Material: 100 % Plastik. 95 % Atemnot. Aber 100 % Bravo Girl approved.

Und dazwischen: Beverly Hills 90210-Mode.

Kelly trug diese blütenweißen Jeansjacken mit übergroßen Kragen, Brenda schleppte Maxi-Röcke mit Ethno-Print durch die Szenerie, und Donna... nun ja, Donna hatte viel Volumen. Im Haar. Im Kleid. Im Herz.

Und wir alle wollten das haben. Es war die Zeit, in der man einen Tamagotchi hatte – aber kein Stilbewusstsein.

Man sah aus wie ein Poesiealbum auf Ecstasy. Alles war glitzernd, wild, schräg – und ganz ehrlich: Es war großartig.

Weil niemand fragte, ob das „vorteilhaft“ ist. Oder „clean“. Oder „minimalistisch“.

Minimalistisch waren damals nur unsere Schnitte – nicht unser Mut.

Und vielleicht ist das das Schönste an 90er-Mode:

Sie war wild. Unlogisch. Peinlich. Aber sie war EHRLICH.

Nicht durchoptimiert. Nicht für Likes produziert. Nicht mit skandinavischem Filter glattgebügelt.

Sondern ein modisches „Who cares?!“ mit Buffalo-Sohle und Glitzer-Top.

Heute lachen wir über sie. Aber tief im Inneren wissen wir:

Sie hat uns geformt. Uns aus der Schüchternheit geholt. Uns zum Leuchten gebracht.

Uns erlaubt, verrückt zu sein, bevor es ein Hashtag wurde.

Und sind wir mal ehrlich:

Niemand hat in einem beigen Kaschmir-Zweiteiler so viele Erinnerungen gesammelt wie in einer glitzernden Stretchhose mit Tribalschnörkel.

Liebe 90er, ich denke gerne an Euch, denn durch Euch wurde ich das was ich heute bin: mutig, ehrlich und so verdammt frei.

In Liebe,

Marlis für Karins Schwester


Hinterlassen Sie einen Kommentar

Bitte beachten Sie, dass Kommentare vor der Veröffentlichung freigegeben werden müssen

Diese Website ist durch hCaptcha geschützt und es gelten die allgemeinen Geschäftsbedingungen und Datenschutzbestimmungen von hCaptcha.